Von Qadian nach Rabwah

Die Teilung Indiens nahm ihren Lauf. Menschen, die seit Generationen ohne Feindschaft miteinander gelebt hatten, begannen, einander zu hassen. Niemand war mehr sicher. Überall begannen die Menschen, sich zu bewaffnen. Tahir war Mitglied der Ahmadiyya Jugendbewegung Khuddam-ul-Ahmadiyya, die in Kompanien und Bataillone zur Verteidigung Qadians eingeteilt wurde. Siebzigtausend Muslime strömten aus den umliegenden Dörfern in die Stadt. Um sie herum lauter feindlich gesonnene Sikhs und Hindus.

Die Umwandlung der Ahmadiyya-Jugend in eine gut ausgebildete Miliz sollte noch manchem Muslim das Leben retten. Und der Zweite Kalif sah es voraus. Die Muslime vieler Punjab-Dörfer wurden umgebracht. Trecks wurden überfallen, geplündert und jeder, der dem Gegner in die Hände fiel, wurde ohne Erbarmen abgeschlachtet; aber in einem Umkreis von dreißig Meilen um Qadian hielten die Ahmadi-Patrouillen die Terroristen von den unter ihrem Schutz stehenden Dörfern fem. Und sie hungerten nicht. Qadian, in normalen Zeiten ein Städtchen von 20.000 Einwohnern, beherbergte nun 80.000 Flüchtlinge.

Anstatt Getreide für nur einen Jahresbedarf einzulagern, hatte mein Vater Korn für zwei oder drei beschafft. Er wusste, dass es einen Zustrom von Flüchtlingen geben würde, und Nahrungsmittel knapp sein würden. Infolgedessen rollten schon bald LKW-Ladungen Weizen von Qadian nach Amritsar anstatt in umgekehrte Richtung. Die Muslim-Zeitungen berichteten über diese Hilfe seitens der Ahmadis wahrheitsgetreu: Es waren nicht die großen Städte, die jetzt ihren Muslim-Brüdern halfen, sondern die Menschen, die man in der Vergangenheit die “ Ungläubigen “ genannt hatte.

Im August 1947 sah sich die Gemeinde allerdings einer unerwarteten Krise gegenüber. Die gesamte Region fiel an das zu Indien gehörende Gebiet. Nach reiflicher Überlegung ordnete der Kalif die Evakuierung an. Qadian, der Ort, an dem Ahmad geboren wurde, gelebt hatte, und begraben war, war natürlich für alle Ahmadis ein heiliger Ort, doch ihre Zukunft lag in Pakistan, dem Land, das zu schaffen sie beigetragen hatten. Aber eines Tages, so versprach der Kalif, würde die Gemeinde nach Qadian zurückkehren.

Am 31. August wurden die Moscheen, die Schulen und die Wohnhäuser verschlossen und ein immenser Zug von Lastwagen, geschützt von Armee-Einheiten, rumpelte aus Qadian hinaus. An Bord war alles, was man nur transportieren konnte. Der Konvoi, ständig belästigt von den Sikhs, brachte sie nach Lahore in den neuen Staat Pakistan.

313 Ahmadis blieben zurück, um den Besitz der Gemeinde zu behüten, bis sie zurückkehren konnten. Es war die gleiche Anzahl von Anhängern, wie sie auch mit dem Heiligen Propheten in der Schlacht von Badr gestanden hatte.

In Pakistan verteilten sich die Mitglieder der Gemeinde, um ein neues Leben zu beginnen. Ihre Ausbildung und ihre Fähigkeiten wurden in dem neuen Heimatland dringend gebraucht. Der Kalif hatte prophezeit, dass sie Qadian würden verlassen müssen. Die Offenbarung war in der Zeitung der Bewegung AI Fazal im Dezember 1941 veröffentlicht worden. Aber er war ebenso sicher, dass sie zurückkehren würden. In der Zwischenzeit würden sie eine neue Stadt errichten. Sie läge in einer grünen, freundlichen Landschaft mit vielen Bäumen und sprudelnden Quellen. Das Land wäre bedeckt mit Hügeln.

Die 1.034 Morgen Land am Westufer des Flüsschens Tschenab, die die Gemeinde von der Regierung erstand, passten gar nicht zu der Offenbarung des Zweiten Kalifen. Es gab dort keine Bäume. Es gab kein Wasser. Der Boden war salzhaltig. Die einzigen Bewohner schienen Schlangen und Skorpione, Wölfe und Schakale zu sein. Ein Ahmadi-Autor hat den Urzustand einmal als „die absolute Wildnis“ bezeichnet. Das Tal lag etwa sechs Meilen von der Stadt Chiniot entfernt an der Straße von Lahore nach Sargodha und war ungefähr drei Meilen lang und eine Meile breit. Im Norden war es begrenzt durch einen Berg aus schwarzem Gestein. Jedoch gab es auch gewisse Vorteile. Der Fluss Tschenab fließt durch das Tal und die Bahnlinie von Lahore nach Sargodha, die das Land, das sie gekauft hatten durch teilt, verspräche gute Verkehrsanbindung für spätere Zeiten. Aber am Wichtigsten von allem war, dass sie hier in Ruhe gelassen würden.

Wir ziehen diese Wildnis den Städten vor; um den Menschen ihre Pflichten vor Augen zu führen, sie zu organisieren und ihnen Ausbildung sowie moralisches Training zu bieten,

sagte der Kalif.

Dieses Tal, etwa zweihundert Meter über dem Meeresspiegel und zirka fünf Meter über der nahegelegenen Ebene gelegen, sollte ihre Zuflucht sein, genauso, wie es der Koran beschreibt, dass Gott Maria und Jesus Zuflucht gewährt hatte.

Und Wir machten den Sohn der Maria und seiner Mutter zu einem Zeichen und gaben ihnen Zuflucht auf einem Hügel mit einer grünen Talmulde und dem fließenden Wasser von Quellen. (23:51)

Im Arabischen ist das Wort für ein solches Land Rabwah. „Rabwah“ sollte also der Name für ihre neue Stadt sein, entschied der Kalif. Zuvor, als sie das Tal zum ersten Male erblickten, sprach er: „Die Zuflucht, die ich in meinen Träumen gewahrte, ähnelt diesem Ort in mehrerlei Hinsicht. Er ist mit Hügeln übersät, zum Beispiel; aber er ist auch wüst, während der Ort, den ich sah, grün war. Aber vielleicht bedeutet es, dass dieser Platz durch unsere Bemühungen erst noch grün werden soll.“

Die Pläne für die neue Stadt wurden erstellt und am 19. September 1948 erschienen die ersten Ahmadis auf der Baustelle. Sie errichteten Zelte, die den ersten Freiwilligen, die die Stadt erbauen sollten, vorübergehende Unterkunft gewährten.

Unter ihnen war auch Tahir. Die ersten Häuser wurden aus Selbstgebrannten Lehmziegeln gebaut, Fenster und Türen stammten aus Abbruch Häuser. Unscheinbare Lehmziegelhäuschen begannen bald die 3.000 Parzellen zu füllen, die der Stadtplan auswies.

Das Leben war anfangs nicht leicht. Jeder Familie waren zwei Bettstätten, eine Lampe und ein Bottich für den Haushalt zugeteilt. Die Wasserversorgung war minimal. Geologen hatten behauptet, dass es im Untergrund Wasser gäbe, aber es konnte lange nicht gefunden werden. Es verstrichen volle sieben Monate, bis die erste Brunnenbohrung erfolgreich war.

Um 1954 begann der gesegnete Platz der grünen Hügel und Quellen fließenden Wassers, den der Kalif in seiner Offenbarung geschaut hatte, Wirklichkeit zu werden. Rabwah war nun eine Stadt mit 45.000 Einwohnern geworden und wuchs während der Zeit der Jährlichen Versammlung im Dezember auf mehr als eine 1/4 Million Seelen an. Breit angelegte Straßen, von Bäumen gesäumt, hatten die losen Wege ersetzt; die Lehmziegelhäuschen waren zweistöckigen Häusern aus Backstein gewichen. Im Herzen der Stadt, strahlend im Glanz, stand die Mubarak-Moschee. Sie konnte 5.000 Betende aufnehmen.

Ian Adamson, Ein Mann Gottes – Das Lebens des Khalifatul-Masih IV, Verlag Der Islam, 2000, S.80-93